Die systemische Kommune

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Wirkungsnetz-orientiertes Handeln und fehlertolerantes Problemlösen[Bearbeiten]

Systemisch heißt: Lösungen zu erarbeiten, die den dynamischen Prozessen in einem komplexen Gemeinwesen nachhaltig gerecht werden und deren Fähigkeit zur Weiterentwicklung stärken. Dazu sind Denk- und Handlungsstrukturen erforderlich, die Prozesse in Kommunen realistischer vernetzen und abbilden.

Seit Gründung des föderalen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland zieht sich ein roter Faden durch die Fiskalpolitik: Im Verlauf der periodisch – auch parteipolitisch - wechselnden Bundesregierungen wurde das haushälterische Finanzierungssaldo äußerst selten positiv abgeschlossen. Das mag natürlich bei politischen Institutionen in Bundesländern, Städten und Kommunen ergebnis-differenzierter ausgefallen sein. Im Wechsel von aufsteigenden und absteigenden Konjunkturen wurden in Wachstumsperioden insbesondere auf Bundesebene kaum ausreichende „Krisen- bzw. Unsicherheitspolster“ angelegt. Quantitatives Wachstum mit daraus abgeleitetem Volkswohlstand waren die treibenden politischen und wirtschaftlichen Kräfte und sind es bis heute geblieben – noch!

Die auch daraus entstandene Zwangslage zum aktuellen Abbau eines ca. 80 Milliarden Euro schweren „Schuldenpakets“ der Bundesregierung im Zeitraum von 2011 bis 2014[1] ist Folge der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung unserer Gesellschaft in fast allen Facetten! Das heißt konkret: Alles ordnet sich der Kosteneffizienz pro Zeit unter; Personal wird entlassen, Betriebsanlagen oder Liegenschaften verkauft und wieder zurückgemietet (kommunale Cross-Border-Leasing-Geschäfte), Reparaturzyklen „gestreckt“, kommunale Dienstleistungen reduziert und vieles mehr.

Auch wenn die aktuelle November 2010-Steuerschätzung[2] leichte Entlastung für das föderative Gemeinwesen von 2010 bis 2012 verspricht: Die „unendliche“ Geschichte der Schuldenfortschreibung der Bundeshaushalte seit 1952 ist und bleibt ein Paradebeispiel mechanischen linearen Denkens und Handelns.

Unterstützt wird dieses Vorgehen im öffentlichen Verwaltungsraum aller verwaltungsbürokratischen Institutionen von Bundes- bis kommunaler Ebene im Wesentlichen durch:

  • mechanisch konstruierte – oft isolierte - Arbeitsbereiche, die sich aus den typischen Organigrammen einer Verwaltung ergeben
  • durch ein althergebrachtes kameralistisches Rechnungswesen. Die erweiterte Form der Doppik-Rechnung führt nur zu marginalen Verbesserungen.
  • über Jahrzehnte fortgeschriebene Festigung bzw. Verkrustung der zugrunde liegenden Strukturen (siehe die beiden vorigen Punkte).

Fiskalische, wirtschaftliche, infrastrukturelle, bildungsorientierte, kulturelle, humanökologische und andere erarbeiteten Ergebnisse aus Ministerien, Senatsbereichen, Dezernaten, Dienststellen oder Abteilungen wirken sich nach allen Regeln direkt monokausal auf die betreffenden Kommunalbereiche aus. Diese Mechanik des Handelns zeigt sich beispielsweise bei Steuererhöhungen für die Bürger, beim Bau eines Industriegebietes oder Straßenausbaus, bei der Streichung dringender Renovierungskosten für Schulen, bei Schließung von Schwimmbädern und Theatern, bei der Errichtung von Umweltzonen und vielem mehr.

Tief in die Materie eindringende Spezialisten in den öffentlichen Ämtern erfüllen ihre Aufgaben – durch technische Fortbildungen unterstützt – seit Jahrzehnten und in immer gleicher Weise. Ihre Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge mögen plausibel und kausal nachvollziehbar sein; in den seltensten Fällen sind sie aber systemisch orientiert! Der Grund ist in den dominanten Abläufen hierarchischer Organisationsstrukturen zu suchen.

Es ist ein Trugschluss, mit noch so präziser linearer oder linear-paralleler Wirkungs-Kausalität auf eine spezielle kommunale Lösung hinzuarbeiten, sie umzusetzen und zu glauben, dadurch wird „meine“ Kommune gestärkt, wenn die vernetzten Einflüsse aus anderen kommunalen Sektoren weitgehend unberücksichtig und ungewichtet bleiben. Selbst Ausnahmen einer organisatorischen Zusammenfassung mehrerer gesellschaftlicher Bereiche wie in der Senatserwaltung Bremen (zum Beispiel leitet ein Senator die Bereiche Umwelt, Bau, Verkehr und Europa) bieten keine Gewähr dafür, dass systemisch vernetzte Verwaltungsarbeit und Problemlösung erfolgt.

Im Gegenteil! In der Realität sind öffentliche Verwaltungsstrukturen über Jahrzehnte linear gewachsen und haben trotz Regierungswechsels weiterhin Bestand. Die Verteilung der Verwaltungsleitungen geschieht in der Regel aus parteipolitischem Proporz und weniger aus sinnvollen Überlegungen, die der Stärke des vernetzten kommunalen Entwicklungsfortschritts förderlich sind.

Mit dieser bekannten Lösungsstrategie – mit einer Sichtweise von innen aus dem Gemeinwesen heraus – erfahren die Entscheidungsträger kommunaler Verwaltungen:

  • wenig bis nichts über die wahren Strukturzusammenhänge des Gemeinwesens,
  • orientieren sich oft an der Konkurrenz,
  • leiten Fortschritte aus problemfixierten Marktanalysen ab,
  • orientieren sich an Prognosen und laufen Trends hinterher,
  • bei Beteiligung mehrerer Verwaltungsbereiche sind oft faule Kompromisse die Lösung des Problems,
  • fördern Lobbyismus u.v.m.

Aber exakt diese Handlungsweise hat – zusammen mit anderen Besonderheiten, wie z.B. die bereits vorab genannten Cross-Border-Leasing-Geschäfte, vorauseilende Projekte ohne realistische Finanzabsicherung, Infrastrukturplanung und Teilrealisierung ohne jeden volkswirtschaftlichen Wert oder Auswirkungen der globalen Finanzkrise – zu den gegenwärtigen angehäuften Folgeproblemen mit Folgekosten geführt. Deren Schuldenabbau geschieht zur Zeit von Bundes- bis Gemeindeebene mit denselben unsystemischen – partiell nur unwesentlich geänderten – Methoden wie es seit Jahrzehnten mit dem Schuldenaufbau stattfindet.

Es ist Zeit, die gewachsenen Hausstrukturen der öffentlichen Verwaltungen umzulenken, um für die immer vorhandene komplexe Gemeinwesenstruktur bessere Lösungen mit nachhaltigen Fortschritten zu erarbeiten. Grundsätzlich gilt dafür: Nicht die einzelnen Kostenposten eines Haushaltsplans sind das Problem sondern deren zugrunde liegendes System der Haushaltsführung bzw. -regulierung! Kommunen können kommende Herausforderungen aus lokaler und globaler Sicht ihrer Entwicklung nur dann nachhaltig bewältigen, wenn sie ihren Fortschritt weniger auf dem Weg der Ökonomisierung und mehr auf dem Weg der Ökosystemisierung suchen. Hierbei spielen Wirkungsnetzanalysen eine dominante Rolle!

Wirkungsnetze[Bearbeiten]

Was bedeutet es, mit Wirkungsnetzen in öffentlichen Verwaltungen zu agieren? Und – was sind wesentliche Merkmale einer Kommune, die Wirkungsnetz-Analysen sukzessiv nutzen und langfristig zur Grundlage ihrer Handlungen bestimmen?

Zu Frage 1: Die Bearbeitung und Lösung kommunaler Aufgaben, wie beispielsweise:

  • Verlängerung und Verlauf von Strassenbahnlinien (Baudezernat),
  • Mehrgenerationenhaus (Baudezernat, Sozialdezernat),
  • Stoff-Wiederverwertung (Wirtschaftsreferat, Baureferat, Verkehrsreferat),
  • Grünflächen, Erholungsgebiet (Baureferat, Umweltreferat, Sozialreferat),
  • Schul-Erweiterungsbau (Bildungsreferat, Baureferat),

geschieht aus den jeweiligen hierarchisch strukturierten Referaten oder Dezernaten heraus; wobei übergreifende Absprachen bekanntlich zu Kompromisslösungen führen. Diese sind aber selten Lösungen, die die wahren vernetzten Zusammenhänge um die Kernaufgabe herum angemessen, das heißt ganzheitlich gewichtet, berücksichtigen. Weil dem so ist, werden sich in der Regel – zeitversetzt – unerwartete Folgeprobleme zeigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Wirkungsnetzanalysen erfasst und vermieden worden wären.

Ob ein neuer Bildungsansatz, eine neue kommunale Bürgerdienstleistung, ein neuer kleinräumiger Energieverbund oder die Einrichtung einer kommunalen Umweltzone, alles geschieht auf der Basis komplexer vernetzter Zusammenhänge. Bleiben diese – zumindest die vernetzten Schlüsselgrößen – unerkannt oder werden sogar ignoriert, gewinnen Folgekosten die Oberhand. Wozu dies führt, zeigen nicht nur die gegenwärtigen Bemühungen um eine Konsolidierung der Finanzhaushalte und damit zusammenhängende Belastungen für Gemeinwesen und Bevölkerung.

Zu Frage 2: Wesentliche Merkmale einer Kommune, die Wirkungsnetz-Analysen sukzessiv nutzen und langfristig zur Grundlage ihrer Handlungen bestimmen sind:

  • Die kommunale Organisation wird leistungsstärker und robuster,
  • netzwerkstrukturierte Organisationen und Prozesse arbeiten deutlich effizienter als hierarchisch strukturierte Organisationen,
  • ganzheitliches systemisches Controlling erlaubt wirksame Früherkennung von Fehlern bzw. Konflikten,
  • Konzentration auf Fehler, auch auf kleinste, um Gefahr einer Fehlerfortpflanzung mit größeren Folgen vorzubeugen,
  • fehlervorbeugende Prozesse erhöhen die Zufriedenheit der Bürger,
  • stärkere Motivation der Mitarbeiter fördert die Innovationsbereitschaft,
  • Respekt vor fachlichem Wissen und Können auch in den „unteren“ Strukturebenen,
  • die Fähigkeit zur zukünftigen Selbstanpassung des zugrunde liegenden ganzheitlichen Wirkungsnetzes stärkt die Nachhaltigkeit.

Eine derart entwickelte, effiziente zukunftsweisende Kommunalverwaltung besitzt eine Organisation hoher Achtsamkeit. Sie behandelt vorrangig das Unerwartete, lernt direkt aus Fehlern, optimiert den Arbeitsfluss statt die Arbeit(!) und setzt dadurch zielgerichteter Lösungen in die Praxis um. Systemische Verwaltungsstruktur erarbeitet ganzheitliche fehlertolerante Lösungen für Probleme in vernetzter Umwelt.

Kommunale bzw. regionale Aufgaben werden aus vernetzt organisierten Amtsbereichen oder funktionalen Organisationseinheiten heraus bearbeitet und gelöst. Dabei werden reale komplexe Zusammenhänge berücksichtigt, hohe Achtsamkeit auf kleinste Fehler gelegt, wodurch Folgeproblemen (mit Folgekosten) weitgehend vermieden werden können. Die Quintessenz aus dieser kommunalen vernetzten Lösungsstrategie – mit einer Sichtweise von außen in das Gemeinwesen hinein – ist:

  • Mehr und intensivere Erfahrungen über die wahren Zusammenhänge im Gemeinwesen,
  • deutliche hervortretende starke und schwache Einflüsse,
  • besseres Verständnis der funktionalen Abläufe für materielle und immaterielle Prozesse, effizientere Informationswege,
  • bessere Erfassung und Planung zusammengehöriger Vorgänge zur Stärkung des Gemeinwesens,
  • Erkennung von möglichen selbstorganisierten neuen Verwaltungseinheiten u.v.m.

Hohe Achtsamkeit[Bearbeiten]

Organisationen – insbesondere öffentliche Organisationen – neigen dazu, Informationen zu geplanten oder bereits realisierten Vorhaben selektiv zu sammeln, um einmal getroffene Entscheidungen zu verteidigen und zu rechtfertigen. Die Grenzen dieser Verwaltungsakte sind erreicht, wenn unerwartete Ereignisse eintreten. Jetzt reicht es nicht mehr, nur Informationen zu sammeln, die für die eigene Erwartung sprechen; es müssen ebenso Informationen erfasst werden die dagegen sind!

Ein weiterer Punkt sind unterschiedliche Präferenzen. Beteiligte an (kommunalen) vernetzten Projekten müssen ihre unterschiedlichen Ansichten äußern und über die Notwendigkeit getroffener oder zu treffender Entscheidungen diskutieren. Selbstverständlich müssen bewährte monokausale Planungs- und Praxisabläufe nicht dynamisiert werden. Sie sollten sich jedoch integral in das maßgebende, praxisrelevante reale Wirkungsnetz der Aufgabe und Aufgabenlösung einfügen. Insofern ist eine formbare kommunale Verwaltung einer weitgehend starren hierarchischen Verwaltung vorzuziehen. Erst dann können Kommunen, Städte oder auch größere gesellschaftliche Bereiche hoffen, mit hoher Achtsamkeit zukünftige Folgeprobleme frühzeitig zu erkennen und fehlertolerant zu beheben oder sogar zu vermeiden.

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. BMFinanzen (7.2010): Bundeshaushalt 2011 und Finanzplan bis 2014
  2. Bundesministerium der Finanzen - Referat I A 6: Ergebnisse der Steuerschätzung November 2010

Quelle[Bearbeiten]

Beim vorstehenden Text handelt es sich um einen Fachartikel von E. W. Udo Küppers, entnommen aus: AKP 1/11

Dr.-Ing. E. W. Udo Küppers ist Ingenieurwissenschaftler, Bioniker und Systemiker. Arbeitsschwerpunkte: Organisationsbionik, Systemisch vernetztes Denken und Handeln; über 25 Jahre Erfahrung aus Industrietätigkeit und Selbstständigkeit (Küppers-Bionik), rund 100 Veröffentlichungen, 2 Bücher, 4 Patente, Lehre an verschiedenen Universitäten.

Von Udo Küppers stammt das Buch "Denken in Wirkungsnetzen. Nachhaltiges Problemlösen in Politik und Gesellschaft" (Tectum Verlag 2013, 237 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-8288-3109-4), mehr Information beim Verlag

Siehe auch[Bearbeiten]