Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Für staatliche Hoheitsakte gegenüber Bürger:innen gilt in Deutschland und in der gesamten EU der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Gesetze, Verwaltungsakte, Satzungen und Verordnungen müssen verhältnismäßig sein. Der Grundsatz wird auch als Übermaßverbot bezeichnet,[1], im Englischen wird er mit "Proportionality" übersetzt. Doch was bedeutet er im Einzelnen?

Prüfung in vier Schritten[Bearbeiten]

Ob ein Hoheitsakt verhältnismäßig ist, wird in vier Schritten geprüft, deren Reihenfolge festgelegt ist. Dies ist nicht in einem Gesetz normiert, sondern in der Entwicklung des Rechtsstaats durch Rechtsprechung herausgearbeitet worden.

Die vier Schritte lauten: Ein Hoheitsakt muss, um verhältnismäßig zu sein, 1. einen legitimen Zweck haben, 2. zur Erreichung des Zwecks geeignet sein, 3. hierfür auch erforderlich und 4. angemessen sein.

1. Legitimität[Bearbeiten]

Damit ein Verwaltungsakt legitim ist, muss er den Gesetzen entsprechen. (Für die Gesetzgebung, die ja Recht schafft, wie auch teilweise die Rechtsprechung gilt das nicht; hier muss der verfolgte Zweck verfassungsgemäß sein.) Nicht nur der verfolgte Zweck, auch das verwendete Mittel muss rechtmäßig sein. Anders herum betrachtet: Eine hoheitliche Maßnahme, die keinen legitimen Zweck verfolgt oder ein nicht legitimes Mittel einsetzt, kann niemals verhältnismäßig sein, die Prüfung der weiteren Kriterien ist damit überflüssig.

2. Geeignetheit[Bearbeiten]

Das gewählte Mittel ist dann geeignet, wenn der verfolgte Zweck damit erreicht oder zumindest gefördert werden kann. Kann der Zweck mit der vorgesehenen Maßnahme nicht oder nur unzureichend erreicht werden, ist die Maßnahme nicht verhältnismäßig.

Dies ist für den Zeitpunkt zu prüfen, an dem die Maßnahme erlassen wurde. Stellt sich nachträglich heraus, dass der Zweck nicht oder nicht hinreichend erreicht wird, kann die Maßnahme trotzdem verhältnismäßig sein, jedoch ist u.U. eine Nachbesserung erforderlich.

Verwaltung oder Gesetzgebung können natürlich bei Erlass einer Maßnahme nur beurteilen, ob sie voraussichtlich geeignet ist; hierbei haben sie einen gewissen Prognosespielraum. U.U. können Maßnahmen auch erprobt werden.

3. Erforderlichkeit[Bearbeiten]

Die Frage, ob eine Maßnahme erforderlich ist, läuft auf die Frage hinaus, ob es ein milderes Mittel gibt, das gleich gut zur Erreichung des Zwecks geeignet ist. Milder ist ein Mittel dann, wenn es weniger stark in die Rechte Betroffener eingreift. Um einen behördlichen Eingriff zu beanstanden, müssen Kläger:innen also möglicherweise Alternativen aufzeigen, die ebenso geeignet sind und weniger stark in Rechte eingreifen. Letztlich ist das mildeste Mittel, das zur Erreichung des Zwecks gefunden werden kann, das erforderliche.

4. Angemessenheit[Bearbeiten]

Angemessen ist eine Maßnahme dann, wenn der angestrebte Zweck nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht. Die Betroffenen dürfen nicht übermäßig oder unzumutbar belastet werden. Die Angemessenheit wird auch als "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne" bezeichnet. Hier wird also abgewogen zwischen dem Zweck einer hoheitlichen Maßnahme und dem Eingriff in Rechte, der damit verbunden ist. Die Abwägung ist nicht immer einfach, hier müssen auf beiden Seiten - Zweck der Maßnahme und Schwere des Eingriffs - oft mehrere Rechtsgüter betrachtet werden, dabei spielen häufig auch Werturteile eine Rolle. Um vor Gericht zu bestehen, müssen alle Rechtspositionen und Wertentscheidungen, die mit der Maßnahme beabsichtigt oder von ihr betroffen sind, einbezogen werden.

Beispiel[Bearbeiten]

Als ein Beispiel dafür, wie höchste Gerichte die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme in den beschriebenen Schritten prüfen, kann der Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 18.07.2019[2] herangezogen werden. Das Gericht sollte mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die sog. Mietpreisbremse behandeln. Es hat die Beschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, dabei jedoch ausführlich die Verhältnismäßigkeit der Mietpreisbremse dargelegt (siehe dazu den Beschluss ab Randziffer 59): 1. (Rz. 60) Der Gesetzgeber verfolgt mit der Mietpreisbremse ein legitimes Ziel; die Begrenzung der Miethöhe in stark nachgefragten Wohnquartieren liegt im öffentlichen Interesse. 2. (Rz. 61-65) Die Regelung ist auch geeignet, das Ziel zu erreichen - auch wenn sie es möglicherweise nur fördert und für sich allein nicht vollständig erreicht. 3. (Rz. 66-67) Die Regelung ist auch erforderlich, ein milderes Mittel mit gleicher Wirkung ist nicht ersichtlich. Dafür muss der Gesetzgeber nicht nachweisbar die beste Lösung gefunden haben, er hat einen weiten Beurteilungsspielraum. Ebenso können neben der Mietpreisbremse noch weitere Maßnahmen notwendig sein. 4. (Rz. 68-76) Die Mietpreisbremse ist letztlich den Vermieter:innen auch zumutbar; sie greift in ihre Rechte ein, belastet sie jedoch nicht übermäßig. Das Recht auf Eigentum ist zwar im Grundgesetz geschützt, kann aber durch Gesetze beschränkt werden. Die Rechte von Vermieter:innen müssen gegen die Rechte der Mieter:innen, aber auch gesamtgesellschaftliche Interessen wie z.B. die soziale Durchmischung der Wohnbevölkerung abgewogen werden. Hier hat der Gesetzgeber, so das Gericht, ein ausgewogenes Verhältnis gefunden (Rz. 73). Auch bei den Spielräumen der Landesregierungen (Festlegung der Gebiete, in denen die Mietpreisbremse gelten soll) hat der Gesetzgeber für die Wahrung der Verhältnismäßigkeit gesorgt (ab Rz. 77).

Fazit[Bearbeiten]

Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Verhältnismäßigkeit und Übermaßverbot als Grundsätze, "die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben und deshalb Verfassungsrang haben",[3] sprich, sie sind konstitutiv für den Rechtsstaat. Einerseits muss der Staat handlungsfähig sein und legitime Ziele wirksam verfolgen können, andererseits aber die Freiheiten und Rechte der Bürger:innen bestmöglich wahren und schützen. Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz dürfen es sich dabei nicht zu leicht machen, die notwendigen Abwägungen erfordern Sorgfalt. Doch genau durch diese Abwägungen unterscheidet sich ein demokratischer Rechtsstaat von Diktaturen einerseits, von populistischen oder antistaatlichen Politikkonzepten andererseits.

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. Der Begriff "Übermaßverbot" wird synonym zu "Verhältnismäßigkeit" vor allem dort verwendet, wo es um Grundrechte geht; in anderen Bereichen wird er eher enger gefasst als "Erforderlichkeit im engeren Sinne", siehe hierzu weiter unten.
  2. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2019 - 1 BvL 1/18 u.a.; vgl. auch BVerfG, Pressemitteilung Nr. 56/2019 vom 20. August 2019. Neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt bei diesem Beschluss auch der Gleichbehandlungsgrundsatz eine wesentliche Rolle.
  3. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 05.03.1968 - 1 BvR 579/67, Randziffer 22

Zum Weiterlesen[Bearbeiten]