Reiche Ernte in Gemeinschaftsgärten

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Beim Urban Gardening findet der Homo oeconomicus sein Korrektiv[Bearbeiten]

»In Zeiten der immer ungenierteren Vermarktung öffentlichen Raums ist der Anspruch, eben dort Kartoffeln zu pflanzen – und zwar ohne Eintrittskarte – geradezu revolutionär«, schreibt Sabine Rohlf in ihrer Buchbesprechung von Urban Gardening (Berliner Zeitung 05.04.2011). Und in der Tat: Die Rückkehr der Gärten in die Stadt, wie wir sie allerorts beobachten können, ist Ausdruck eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlich und privat. Und nicht nur diese Leitunterscheidung der modernen Gesellschaft verschwimmt zunehmend, auch die Differenz zwischen Natur und Gesellschaft sowie zwischen Stadt und Land gerät ins Wanken, zumindest aus der Perspektive von urbanen Gemeinschaftsgärtnerinnen und -gärtnern.

Spätestens in den Wirtschaftswunderjahren der 1960er-Jahre wurden die städtischen Gemüsegärten aufgegeben, auch aus Statusgründen, etwa, um zu demonstrieren, dass man in der Lage war, die Dinge nun kaufen zu können und nicht mehr selber machen zu müssen. Heute dagegen steht mitten in den angesagten Vierteln der Großstädte die »Generation Garten« tatkräftig in den Rabatten, machen die »Jungbauern aus Kreuzberg« Furore, veranstaltet die Bundeskulturstiftung das Festival »Über Lebenskunst«, und man kann die von Gartenarbeit schwarz gefärbten Fingernägel getrost wieder öffentlich zeigen.

Was wir hier beobachten, ist eine Verschiebung in der Statussymbolik hin zu postmateriellen Werten und Lebensstilen. Selbermachen, selber anbauen, das bedeutet auch, einen eigenen Ausdruck in den Produkten zu finden, sich markant abzusetzen gegen den Konsum des komplett industriell Vorgefertigten. Die Suche nach individuellem Ausdruck ist dabei zugleich eine Suche nach neuen Formen und Orten der Gemeinschaft. Waren zu Nachkriegszeiten die geheizten Werkstätten der Handwerker und die Gemischtwarenläden Orte des Soziallebens, scheinen sich heute die städtischen Gemeinschaftsgärten und die Offenen Werkstätten zu Treibhäusern einer solidarischen und postfossilen Stadtgesellschaft zu entwickeln.

Seit einigen Jahren bauen mitten in den europäischen Großstädten Menschen unterschiedlichster Milieus gemeinsam Biogemüse an. Sie halten Bienen, reproduzieren Saatgut, stellen Naturkosmetik her, färben mit Pflanzen, übernehmen Parks in Eigenregie und organisieren Tafeln unter freiem Himmel. Mit tatkräftiger Unterstützung der Nachbarschaft gestalten Urban-Gardening-Aktivisten nicht nur Baumscheiben nach eigenen Vorstellungen, sondern verwandeln auch Brachflächen und zugemüllte Parkdecks wieder in Orte der Begegnung und des gemeinsamen Tuns.

Die neue Gartenbewegung ist jung, bunt und heterogen. In Berlin bauen »indigene« Großstadtmenschen Seite an Seite mit türkischen Alteingesessenen Gemüse im Nachbarschaftsgarten an. Partizipative Kiezgärten, Gemeinschaftsgärten, Selbsterntegärten und Bauerngärten vernetzen sich untereinander. Die Bewegung der Interkulturellen Gärten wächst kontinuierlich weiter, und die Internetplattform mundraub.org »taggt« Fundstellen von »freien« Obstbäumen via Web 2.0 (Müller 2011). Mundraub.org ist vielleicht das markanteste Beispiel dafür, wie digitale und analoge Welten koexistieren und darüber neue Zwischenwelten entstehen, in denen der Open-Source-Gedanke von subsistenzorientierter Alltagspraxis begleitet wird.[1]

Urbane Gärten als Wissensallmende[Bearbeiten]

Open Source ist auch die zentrale Leitidee in allen Gemeinschaftsgärten. Sie werden wie Allmenden genutzt und inszeniert; auch wenn die Gärtnerinnen und Gärtner nicht Eigentümer der Flächen sind. Partizipation und das Einbeziehen der Nachbarschaft sind unabdingbare Prinzipien. Urbane Gärten fordern zur Teilhabe auf. So kommt eine Menge an Wissen zusammen und wird produktiv gemixt. Da in der Regel keine Landwirtschaftsprofis mitgärtnern, ist man angewiesen auf – und damit offen für – das, was vorhanden ist. Es gilt die Maxime, dass vom Teilen des Wissens alle profitieren, denn man kann voneinander lernen, sich verloren gegangene Fertigkeiten wieder aneignen, und beitragen zur Entstehung von etwas Neuem. Die Begrenztheit der Mittel, mit der sich der urbane Bauer zwangsläufig konfrontiert sieht – ob Boden oder Material, Werkzeuge oder Zugang zu Wissen –, verwandelt sich durch die gemeinsame Nutzung in eine Ökonomie der Fülle[2], des Erfindungsreichtums, des Gebens und der Gegenseitigkeit.

In urbanen Gärten ergibt sich ständig die Gelegenheit und Notwendigkeit zum Austausch. Das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Talente schafft eine lebendige Atmosphäre. Ob in einem Workshop zum Lastenfahrradselbstbau, zu Window Farming[3], zum Begrünen von Hauswänden, Dächern und Balkonen oder bei der Nutzung von Plastikwasserflaschen als Permanentbefeuchter von Humusboden – gefragt sind immer der Erfindungsgeist und die Produktivität, die häufig erst durch das Weitergeben von Wissen entsteht, das wiederum weiteres Wissen freisetzt; und so ist der schöpferische Prozess in einem Garten nie abgeschlossen.

Er ist selbst eine Werkstatt, in der die Dinge kreativ umgedeutet und neu ins Verhältnis gesetzt werden. Eins ergibt sich aus dem anderen. Für Ideenreichtum sorgt nicht nur die anregende Gegenwart der unterschiedlichen Pflanzen, es ist auch die nie versiegende Möglichkeit, sich einzubringen und die Phantasie von den herumliegenden Dingen anregen zu lassen (Müller 2011: 31ff).

Nach und nach entsteht so eine echte Community, die den Garten nutzt. Eine der wichtigsten Zutaten für das Gelingen ist dabei, dass der Ort noch nicht vordefiniert und verregelt ist. Vielmehr erkennt man an der Atmosphäre der Unaufgeräumtheit und Offenheit, dass Mitarbeit und Mitgestaltung erwünscht und vonnöten sind.

Eine neue Politik des (öffentlichen) Raums[Bearbeiten]

Wenn die Neuköllner Kiezbevölkerung auf dem Tempelhofer Feld im Rahmen des Allmendekontors in selbstgebastelten Behältnissen gärtnert und sich bei dieser Gelegenheit Herkünfte, Generationen und Milieus mischen, dann ist das zunächst eine ungewöhnliche Nutzung des öffentlichen Raums. Doch genau hierin liegt eine wichtige politische Dimension des urbanen Gärtnerns. Gemeingüterzentrierte Praxen, die Gemeinschaften brauchen und zugleich hervorbringen, ermöglichen einen anderen Blick auf die Stadt: Hier treffen die Bewohner nicht unter dem Banner des Großereignisses, der Werbung oder des Konsumzwangs zusammen: Vielmehr sind solche dezentralen Praxen im öffentlichen Raum Ausdruck eines implizit formulierten Anspruchs: auf eine grüne Stadt für alle. Dabei wird keine neue Gesellschaftsutopie auf einer zeitlichen Achse (»die Gesellschaft der Zukunft«) entworfen, sondern der konkrete Raum wird hier und jetzt als Ort des Wandels und als Gegenentwurf zur dominanten marktfundamentalistischen Ordnung umgebaut (Werner 2011).

Der Politik für das Kleinteilige als Wiederentdeckung des Nahraums liegt also keineswegs eine verengte Perspektive zugrunde. Im Gegenteil: Die Übernutzung, Kolonisierung und Zerstörung der globalen Allmende liegt genau im Blickfeld; deshalb wird die lokale Allmende als ein Ort bewirtschaftet, an dem man für einen neuen Begriff der Öffentlichkeit sensibilisieren und zugleich zeigen kann, dass es auch anders geht: gemeinsame Nutzung statt privates Eigentum, lokale Lebensqualität statt ferngesteuerter Konsum, Miteinander statt Vereinzelung.

Die innere Allmende bewirtschaften[Bearbeiten]

Die neue Hinwendung zur Allmende in den urbanen Gemeinschaftsgärten ist nicht nur eine Verteidigung des öffentlichen Raums und ein Engagement für gemeinwohlorientierte Gestaltung. Sie ist zugleich auch eine Stärkung der inneren Räume des Menschen gegenüber den Zuschreibungen des Homo oeconomicus, der uns auf konkurrenzorientierte Individuen reduziert, die nur den eigenen Vorteil im Blick haben. Diese unterkomplexe Modellfigur steht seit einiger Zeit auch in der Wirtschaftswissenschaft selbst unter Beschuss. Insbesondere die bildgebenden Verfahren der Social Neurosciences belegen, dass Kooperationsbereitschaft und das Bedürfnis nach Verbundenheit zentrale Bestandteile der menschlichen Natur sind. Für Geisteswissenschaftler sicher keine neue Erkenntnis, aber dennoch gut zu wissen, wie gut inzwischen belegt ist, dass die hegemoniale Geist-Körper-Grenze künstlich gezogen ist. Diese Grenzziehung wird der komplexen Wechselwirkung zwischen Körper und Geist in keiner Weise gerecht. So weiß man heute, dass soziale oder psychische Erfahrungen körperliche Spuren hinterlassen – selbst in den Genen (Epigenetik). Joachim Bauer hält diese Erkenntnis für den entscheidenden Durchbruch im Blick auf den Menschen (Bauer 2008).

Das bedeutet für unser Thema zweierlei: Zum einen ermöglicht eine Allmendepraxis wie jene der Gemeinschaftsgärtner die Entdeckung des Körpers, die Erfahrung, zwei Hände zu haben und damit etwas schaffen zu können, und die Erkenntnis, dass diese sinnliche Erfahrung unmittelbar mit dem Begreifen der Welt zusammenhängt. Zum andern ist der Garten ein ideales Spielfeld zum Einüben von Kooperation – etwa wenn man gerade ein Regenauffangsystem für die Beete konzipiert. Das schafft Zugang zu einem Aspekt des Menschseins, der ebenso wichtig ist wie die Autonomieerfahrung, nämlich Verbundenheit (Hüther 2011: 46).

Allmende ist in diesem Sinne Lebenspraxis, die es auch den hochgradig individualisierten Subjekten des 21. Jahrhunderts ermöglicht, sich einander zuzuwenden und nicht zuletzt sich dabei zu entschleunigen. Denn auch Zeit ist ein gemeinschaftlich zu konzipierendes Gut. In der Zeit zu sein bedeutet, selbstbestimmt einem Gewerk nachgehen zu können, sich einem Moment hinzugeben oder ihn mit anderen zu verbringen. Der digitale Kapitalismus hat durch die extreme Beschleunigung der Zeit tendenziell alle Menschen dem Effizienzregime unterworfen – mit dem Ergebnis, dass das Zeitempfinden durch Knappheit bestimmt ist und durch den subjektiv empfundenen Stress, Zeit möglichst nutzen-orientiert »füllen« zu müssen. Zeit wird gespart, Stunden der Muße geraten in (inneren) Verdacht, und die Grenzen zwischen Arbeit und freier Zeit verwischen zunehmend durch die permanente Erreichbarkeit.

Der Garten ist hier ein Antidot und wird vom »erschöpften Selbst« (Ehrenberg) zunehmend als Refugium genutzt. Er verlangsamt, er ermöglicht Erfahrungen mit Zeitzyklen aus einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte: der Agrargesellschaft. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die in vielen urbanen Gärten wiederentdeckt wird, ist zyklisch. Jedes Jahr beginnt der Kreislauf neu mit der Vorbereitung des Bodens und dem Säen. Man ist der Natur ausgesetzt, den klimatischen Verhältnissen, den Jahreszeiten und den Tag-Nacht-Zyklen. Diese Zeitdimensionen sind für virtualisierte Stadtmenschen, die gelernt haben, dass alles immer gleichzeitig möglich und vor allem steuerbar ist, hochgradig faszinierend, nicht zuletzt weil sie zu der Erkenntnis verhelfen, dass wir selbst in Lebenszyklen eingebunden sind und dass es beruhigend sein kann, sich den Gegebenheiten einfach mal »hinzugeben«.

Die Bewirtschaftung einer Allmende schafft also nicht nur wertvolle Erfahrungen, sondern auch soziale Zusammenhänge, die weit über sie selbst hinaus wirken. Und, könnte man hinzufügen, sie sind wertvoll, um die vor uns liegende Umgestaltung der erdölbasierten, ressourcenausbeutenden Industriegesellschaft in eine von partizipativen, demokratischen und ökologischen Prämissen geleitete Gesellschaft zu bewerkstelligen, die nicht mehr davon lebt, Kosten zu externalisieren, sondern diese weitestgehend erst gar nicht entstehen lässt. Letztlich sind Prozesse der Gegenseitigkeit und die »Ökonomie der symbolischen Güter« (Bourdieu) in ausdifferenzierten Gesellschaften ebenso gesellschaftsbildend wie in vormodernen (Adloff/Mau 2005). Hierfür bieten alte und neue Allmendepraxen inspirierende Denkanstöße und Handlungsoptionen.

Urbane Landwirtschaft: die neuen Trends[Bearbeiten]

  • »Agropolis« heißt das Planungskonzept Münchener Architektinnen und Architekten, die 2009 den Open-Scale-Wettbewerb mit einer »metropolitanen Nahrungsstrategie« gewannen. Das Konzept für den »Stadtteil des Erntens« stellt den Eigenanbau, die In-Wertsetzung der regionalen Ressourcen und den nachhaltigen Bodenumgang ins Zentrum der Stadtplanung: Ernten soll sichtbarer Teil des städtischen Alltags werden. Wenn die Stadt das Modell umsetzt, könnten Allmendeobst und Gemeinschaftseinrichtungen für Tausch, Lagerung und gemeinsame Zubereitung der Ernte die Grundlage für ein produktives Miteinander der 20.000 Bewohnerinnen und Bewohner des entstehenden Stadtteils schaffen.
  • Der »Bürgergarten Laskerwiese« ist ein selbstverwalteter öffentlicher Park in Bürgerhand. In Eigenarbeit verwandelte eine Gruppe von 35 Anwohnern die ehemals vermüllte Brachfläche in Friedrichshain-Kreuzberg (Berlin) in einen Bürgerpark. Sie schloss mit dem Bezirksamt einen Überlassungsvertrag; der Verein erbringt Pflegeleistungen wie Baum- und Rasenschnitt für das Gelände. Im Gegenzug erhält er pachtfreie Parzellen und Beete für den Gemüseanbau. Solche neuen Modelle, die klamme Kommunen finanziell entlasten und die Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen im öffentlichen Raum erweitern, verlangen beiden Seiten allerdings noch viel Kommunikationsarbeit ab.
  • Das »Allmendekontor« ist eine Initiative der Berliner Urban-Gardening-Bewegung, die seit 2011 mit Kiezbewohnerinnen und -bewohnern auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof gärtnert. Auf 5000 qm Fläche entstehen Hochbeete vielfältigster Stilistik: im Kinderwagen, auf ausgedienten Bettgestellen, in alten Zinkwannen und in selbst zusammengebauten Bretterkombis wird gesät, gepflanzt und geerntet. Das Allmendekontor versteht sich als Garten für alle – und zugleich als Wissensspeicher, Lernort sowie als Beratungs- und Vernetzungsstelle für Berliner Gemeinschaftsgärten. Geplant ist auch der Aufbau eines Gartengerätepools und einer Saatgutbank zur freien Nutzung.

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. »Mundraub« wird im Buch von Katharina Frosch vorgestellt
  2. Siehe dazu das Gespräch zwischen Brian Davey, Wolfgang Höschele, Roberto Verzola und Silke Helfrich im Buch "Commons - Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat"
  3. Window Farming ist vertikales Gärtnern auf dem Fensterbrett. Pflanzen werden in herunterhängenden Plastikflaschen gezogen und damit gleichzeitig die Fenster begrünt.

Literatur[Bearbeiten]

  • Adloff, Frank/Mau, Steffen (Hg.) (2005): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a.M./New York.
  • Bauer, Joachim (2008): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München.
  • Hüther, Gerald (2011): Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt a.M.
  • Müller, Christa (Hg.) (2011): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München.
  • Werner, Karin (2011): »Eigensinnige Beheimatungen. Gemeinschaftsgärten als Orte des Widerstandes gegen die neoliberale Ordnung«, in: Müller, Christa (Hg.): a.a.O., S. 54-75.

Autorin und Quelle[Bearbeiten]

Christa Müller, die Verfasserin der Erstfassung dieses Textes, ist Soziologin und Autorin. Seit vielen Jahren forscht sie über ländliche und urbane Subsistenz. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis in München. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. Sie bloggt auf www.urban-gardening.eu.

Der Text wurde entnommen aus dem Buch "Commons - Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat", S. 267 ff.

Siehe auch[Bearbeiten]