Urbaner digitaler Zwilling
Ein urbaner digitaler Zwilling ist eine computergestützte Simulation von Zusammenhängen in einer Stadt, die als Planungs- und Entscheidungshilfe für die Stadtplanung dienen kann. Dabei werden die Planungsgegenstände mittels virtueller Realität dargestellt und anschaulich gemacht. Ein "urbaner digitaler Zwilling" erfordert eine hohe Rechenleistung, er wird daher in der Regel auf einem leistungsfähigen Großrechner implementiert. Dennoch entsteht dabei nicht unbedingt eine vollständige Simulation aller Aspekte; urbane digitale Zwillinge beschränken sich oft auf einzelne Aspekte wie z.B. die Verkehrsplanung, Grünflächen oder die Energiebilanz von Quartieren. Urbane digitale Zwillinge können also auch definiert werden als "digitale 3D-Modelle einer Stadt, in denen viele verschiedene Daten für unterschiedliche Anwendungen dargestellt werden".[1]
Einige Beispiele[Bearbeiten]
In anderen Bereichen werden "digitale Zwillinge" schon seit einigen Jahren eingesetzt, um z.B. Produktionsanlagen oder Gebäude zu planen oder zu optimieren. Der "urbane digitale Zwilling" ist also die Anwendung einer vorhandenen Technologie auf die Stadtplanung. Für den Aufbau eines solchen Simulationsmodells wird eine große Zahl von Daten benötigt, die aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengetragen werden. Das können Daten und Planungsunterlagen aus der Verwaltung sein oder Fotos, die beim Begehen, Befahren oder Überfliegen eines Geländes gewonnen werden.
- Beispielsweise entwickelt das Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart (HLRS) digitale Zwillinge zur Planung von Maßnahmen im Rahmen der Energiewende oder zur Analyse der Verkehrssituation eines Platzes aus Sicht von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen.[2]
- Bereits seit 2019 gibt es einen digitalen Zwilling für die räumliche Planung der baden-württembergischen Stadt Herrenberg, der seitdem durch Sensoren in der Stadt und Einspeisung weiterer Daten schrittweise ausgebaut wird.[3]
- Hofbieber (Hessen) will für den Aufbau eines Smart Monitoring der klimabeeinflussenden Faktoren im Gemeindegebiet einen "digitalen Zwilling" einsetzen; das Projekt, das vom Land mit ca. 170.000 € gefördert wird, soll der Gemeinde auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2030 helfen.[4]
- Der Rhein-Kreis Neuss plant gemeinsam mit allen seinen Gemeinden erstmals einen "digitalen Zwilling" für einen gesamten Kreis. Dazu sollen alle zwei Jahre Spezialfahrzeuge mit installierten Kameras hochauflösende georeferenzierte 360 Grad-Panoramabilder auf Straßenebene sowie 3D-Punktwolken aus Laserscandaten erstellen. Nach der Einigung mit allen Gemeinden hat der Kreis einen Förderantrag an das Land NRW gestellt mit dem Ziel, dass die auf 800.000 € kalkulierten Kosten des Projekts zur Hälfte aus dem Förderprogramm „Richtlinie für Zuwendungen des Landes NRW zur Förderung der interkommunalen Zusammenarbeit“ finanziert werden.[5]
- Beim ebenfalls als "digitaler Zwilling" bezeichneten Projekt 5GAPS für Hannover handelt es sich jedoch im Wesentlichen um ein besonders genaues Positionierungs- und Navigationssystem auf Basis des 5G-Mobilfunksstandards.[6]
- In Bayern fordert die Staatsregierung Kommunen auf, digitale Zwillinge zu entwickeln, und fördert dies mit bis zu 50.000 € für einzelne Kommunen oder 75.000 € für ortsübergreifende Projekte.[7]
Ausbau[Bearbeiten]
Als realitätsnahe Abbilder der Stadt können Urbane Digitale Zwillinge nicht nur zur Visualisierung, sondern auch zur Auswertung und Simulation von städtischen Prozessen genutzt werden. Dies ist Gegenstand einiger laufender Projekte:
- Im Kooperationsprojekt "Connected Urban Twins – Urbane Datenplattformen und Digitale Zwillinge für Integrierte Stadtentwicklung" (CUT) arbeiten die Städte Hamburg, Leipzig und München seit 2021 zusammen. Als "Modellprojekt Smart Cities" wird das Projekt von der Bundesregierung gefördert. Neben der gemeinsamen technologischen und konzeptionellen Weiterentwicklung Urbaner Datenplattformen und Digitaler Zwillinge ist ein weiteres der Ziele des Projektes die Entwicklung gemeinsamer Standards für den Einsatz von Urbanen Digitalen Zwillingen in Städten und Kommunen. Beispielsweise wird an einer DIN SPEC 91607 "Digitaler Zwilling für Städte und Kommunen" als Teil der „DIN SPEC Reihe“ des DIN Smart City Standards Forums gearbeitet.<ref>CUT: DIN SPEC 91607 Auftakt zu einem neuen DIN-Standard – Digitaler Zwilling für Städte und Kommunen, 28.03.2022. Siehe zu CUT auch: zfv 1/2023: Urbane Digitale Zwillinge als Baukastensystem: Ein Konzept aus dem Projekt Connected Urban Twins (CUT) [1]; Hamburg digital, Connected Urban Twins: Mit Digitalen Zwillingen die Zukunft der Städte gestalten; Stadt München: Connected Urban Twins.
- Das EU-Projekt "Digital Twins for Better Policy Making" (DUET) untersucht, wie Entscheidungsfindung im öffentlichen Sektor durch die Entwicklung und den Einsatz von digitalen Zwillingen demokratischer und effektiver gestaltet werden kann. Auch hier kooperieren drei Gebietskörperschaften: die belgische Region Flandern sowie die Städte Pilsen (Tschechien) und Athen (Griechenland).
Digitaler Mehrwert?[Bearbeiten]
Welchen Mehrwert der Einsatz eines urbanen digitalen Zwillings für die Stadtplanung tatsächlich haben kann, scheint angesichts der kurzen Zeit und der wenigen Fälle, in denen dies Instrument genutzt wird, noch nicht ausgemacht. Einige Gründe sprechen aber für einen Zusatznutzen:
- Bei komplexen Planungen kann eine Visualisierung im Sinne einer virtuellen Realität helfen, die angedachten Maßnahmen in ihrer Gesamtheit zu sehen und ihre Wirkung zu beurteilen. Dies kann insbesondere auch dann helfen, wenn bei beteiligungsorientierter Planung Bürger*innen mitdiskutieren und mitentwickeln sollen.
- Wenn es gelingt, in Simulationen unterschiedliche Aspekte und ihr Zusammenwirken abzubilden, kann dies helfen, im Sinne des vernetzten Denkens komplexe Zusammenhänge zu verstehen und zu bedenken.
- Zukünftig kann ein urbaner digitaler Zwilling auch eingesetzt werden, um in städtische Abläufe in Echtzeit einzugreifen, z.B. um Verkehrsflüsse zu verändern; dabei können dann Wirkungen vorweggenommen werden, die aufgrund komplexer Zusammenhänge sonst nicht erkennbar wären.
Das Konzept "urbaner digitaler Zwilling" steckt noch in den Anfängen, nur wenige Prototypen sind bereits erstellt und im praktischen Einsatz. Noch bilden sie nicht die Gesamtheit städtischer Planung, sondern nur Einzelaspekte ab. Welches Potenzial in diesem Konzept steckt, ist derzeit noch nicht absehbar. Wenn mit weiterer technischer Entwicklung auch der Aufwand zu ihrer Erstellung und Anwendung sinkt, dürfte die Zahl urbaner digitaler Zwillinge aber bald steigen.
Fußnoten[Bearbeiten]
- ↑ Daten-Kompetenz für Städte & Regionen, Digitaler urbaner Zwilling – Hype oder Helfer nachhaltiger Kommunen?, Blogbeitrag, 05.08.2022
- ↑ Universität Stuttgart, Rund 5 Millionen Euro für Transformationsforschung zur Energiewende, 26.10.2022; Mit digitalen Technologien Stadtplanung erfahrbar machen, 08.08.2022
- ↑ Uni Stuttgart, Digitaler Zwilling der Stadt Herrenberg erschaffen (Video, Mai 2022, ca. 1,5 min.); Staatsanzeiger für Baden-Württemberg: Digitaler Zwilling für Kommunen: Herrenberg kann Planungen digital simulieren (Interview mit Baubürgermeisterin Susanne Schreiber, Video, April 2022, ca. 5,5 min.)
- ↑ Osthessen News, Hofbieber erhält 171.360 Euro aus Förderung smarter Kommunen, 17.04.2022; stadt+werk, Förderung für Monitoring-Projekt, 20.04.2022
- ↑ Meine Woche, Digitaler Zwilling kommt, 30.12.2022
- ↑ Institut für Integrierte Produktion Hannover: Access to Public Spaces mittels 5G; siehe auch Zeit, Hannover soll "digitalen Zwilling" bekommen, 14.02.2022
- ↑ Bayerische Staatsregierung: Bis zu 75.000 Euro: Digitalministerium fördert digitale Planungsmodelle für Kommunen / Bewerbungsphase startet, 12.10.2022
Siehe auch[Bearbeiten]
- Freiraumgestalter: Wie digitale Zwillinge die Kommunen unterstützen, 13.04.2022
- Daten-Kompetenz für Städte & Regionen, Digitaler urbaner Zwilling – Hype oder Helfer nachhaltiger Kommunen?, Blogbeitrag, 05.08.2022
- Der Neue Kämmerer, Zwillinge für die smarte Stadt, Interview mit Dominik Magin, Softwareexperte des Fraunhofer IESE, 15.03.2023