10H-Regelung
Als 10H-Regelung wird eine Bestimmung in der Bayerischen Landesbauordnung bezeichnet, wonach seit dem 17.11.2014 Windkraftanlagen "einen Mindestabstand vom 10-fachen ihrer Höhe zu Wohngebäuden in Gebieten mit Bebauungsplänen, innerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile und im Geltungsbereich von Satzungen nach § 35 Abs. 6 BauGB einhalten" müssen. Die Kommunen können in ihrer Bauleitplanung Ausnahmen dazu bestimmen. Die 10H-Regelung wurde durch die neue Länderöffnungsklausel in § 249 Abs. 3 BauGB ermöglicht.
Kritik[Bearbeiten]
Von Anfang an stieß diese Regelung auf viel Kritik. In einer vorhergehenden Anhörung im Bayerischen Landtag lehnten 11 von 12 Expert/inn/en den Gesetzentwurf ab. Grüne protestierten ebenso wie die SPD, die Freien Wähler und der Bundesverband Windenergie. In Bayern sind Anlagen mit Höhen um die 200 m üblich; damit beträgt der Mindestabstand zur Wohnbebauung rund 2 km. Das würde, so die Kritiker/innen, die Fläche, auf der neue Windanlagen technisch sinnvoll und rechtlich möglich sind, auf weniger als 0,05% der Landesfläche reduzieren.[1] Der weitere Ausbau der Windenergie in Bayern werde damit weitgehend gestoppt.
Die CSU sieht hingegen durch die neue Regelung die "Mitbestimmung" gestärkt. Durch die bisherige unbeschränkte Privilegierung von Windkraftanlagen habe es weder für Kommunen noch für Bürger/innen eine Mitbestimmung gegeben. Nunmehr könnte der Ausbau der Windkraft durch Gemeinderatsbeschluss oder Bürgerentscheid "gestaltet" werden.[2]
Klage im Wesentlichen erfolglos[Bearbeiten]
Gegner/innen der Gesetzesänderung haben umgehend eine Popularklage vorbereitet und hierzu die Klagegemeinschaft Pro Windkraft gegründet. Eingereicht wurde die Klage von Hans-Josef Fell und Patrick Friedl. Die Fraktionen der Grünen und der Freien Wähler im bayerischen Landtag klagten ebenfalls, die Verfahren wurden zusammengezogen. Sämtliche Klagen wurden am 9. Mai 2016 vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof abgelehnt.[3] Die 10H-Regelung und weitere Bestimmungen des Gesetzes seien mit der Bayerischen Verfassung vereinbar. Die bundesrechtliche Grundentscheidung für eine Privilegierung von Windenergieanlagen im Außenbereich dürfe durch eine landesrechtliche Abstandsregelung weder rechtlich noch faktisch ausgehebelt werden. Die durch den bayerischen Landesgesetzgeber normierte Festlegung des Mindestabstands zu allgemein zulässigen Wohngebäuden auf die 10-fache Anlagenhöhe überschreite den bundesrechtlich eröffneten Gestaltungsrahmen jedoch nicht. Die Regelung reduziere die Flächen, auf denen neue Windkraftanlagen errichtet werden können, auf 1,7% der Landesfläche, das seien ca. 1.199 km². Wenn weitere rechtliche oder tatsächliche Gründe diese Flächen auf 0,05% oder gar, wie einige Kläger vortrugen, auf 0,01% der Landesfläche verringere, so werde dadurch die 10H-Regelung nicht verfassungswidrig, weil der Landesgesetzgeber nicht verpflichtet sei, die Flächen zu bewerten und den Mindestabstand so festzulegen, dass der Windenergie substanziell Raum verschafft wird.
Verfassungswidrig sei jedoch die in Art. 82 Abs. 5 BayBO den Gemeinden auferlegte Pflicht, bei der Aufstellung von Bauleitplänen, die für Vorhaben der Windenergienutzung einen geringeren als den Mindestabstand festsetzen wollen, im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB auf eine einvernehmliche Festlegung mit betroffenen Nachbargemeinden hinzuwirken. Dieser Artikel wurde daher vom Gericht für nichtig erklärt. "Nebenbei" stellt das Gericht jedoch auch fest, dass der Landtag im Zusammenhang mit dem strittigen Gesetz wohl Minderheitenrechte verletzt habe, indem er trotz vorliegender Anträge keine zweite Anhörung durchgeführt hat.[4] Dieser Verfahrensfehler berühre die Wirksamkeit des Gesetzes jedoch nicht.
Windkraft-Befürworter/innen begrüßen zumindest den letzten Teil der Entscheidung: Dadurch, dass Kommunen, die in Bauleitplänen einen geringeren Mindestabstand festlegen wollen, nicht mehr zwingend "auf eine einvernehmliche Festlegung mit betroffenen Nachbargemeinden" hinwirken müssen, sei ihre Planungshoheit gestärkt.[5] Allerdings bleibt die Verpflichtung nach § 2 Abs. 2 BauGB, Bauleitpläne mit den Nachbargemeinden abzustimmen, erhalten.
2020: Wirtschaftsministerium startet "Aufwind"-Programm[Bearbeiten]
Bis zum Jahr 2020 wurde deutlich, dass die 10H-Regelung den Neubau von Windkraftanlagen in Bayern nahezu zum Erliegen gebracht hat. Zwar können Kommunen über die Bauleitplanung auch Windparks innerhalb der 10H-Grenzen ermöglichen, doch scheitert das in der Praxis meist an erheblichen Widerständen von Bürgerinitiativen oder Nachbargemeinden. Klagen gegen solche Bauleitpläne waren häufig erfolgreich. Im Juni 2020 kündigte das Wirtschaftsministerium an, im Rahmen des Programms "Aufwind – Die Bayerische Windenergieoffensive" mindestens sieben "Windkümmerer" einzustellen - eine/n pro Regierungsbezirk. Sie sollen Kommunen bei der Planung von Windkraftprojekten und insbesondere bei der Schaffung von Akzeptanz unterstützen.[6] Ab Mitte Juni bis zum 18. September 2020 können sich Kommunen um ihre Unterstützung bewerben. Wirtschaftsminister Aiwanger von den "Freien Wählern" hatte sich schon im Wahlkampf für einen stärkeren Ausbau der Windkraft eingesetzt, jedoch ohne Erfolg.
Anfang 2021 berichtet der Bayerische Rundfunk, dass auch dies kaum zum Bau neuer Windkraftanlagen führt. Auch in Kommunen, die der Windkraft gegenüber positiv eingestellt sind, sind die Hürden hoch, weil die notwendige Aufstellung eines Bebauungsplans kompliziert ist und meist viel Einwendungen eingehen. Die Windkümmerer können nur einen Teil der gewünschten Unterstützung leisten, in Oberbayern gingen etwa zwei Drittel der anfragenden Kommunen leer aus.[7]
2022: Windenergieausbau in Bayern "auf dem Nullpunkt"[Bearbeiten]
Die Antwort der Staatsregierung Anfang 2022 auf eine schriftliche Anfrage der Grünen vom Juli 2021 ergab, dass der Neubau von Windenergieanlagen in Bayern praktisch zum Stillstand gekommen ist. Wurden 2013 noch rund 400 Genehmigungsanträge gestellt, waren es 2020 noch drei. 2021 gab es keine Anträge, sechs Anlagen wurden in diesem Jahr genehmigt. Acht Anlagen gingen 2021 neu in Betrieb, zwei ältere gingen zeitgleich vom Netz. Der energiepolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Martin Stümpfig, kommentierte: „Bei der Windkraft sind wir in Bayern jetzt auf dem Nullpunkt angelangt“.[8]
April 2022: 10H-Regelung bleibt - mit Ausnahmen[Bearbeiten]
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung auf Bundesebene findet sich die Absicht, für die Windenergie an Land zwei Prozent der Landesflächen auszuweisen,[9] ein Ziel, das mit der 10H-Regel nicht zu erreichen wäre. Damit steigt der Druck auf die bayerische Landesregierung und insbesondere die CSU, die 10H-Regelung zu kippen, auch koalitionsintern, denn die Freien Wähler drängen ebenfalls auf einen stärkeren Ausbau der Windenergie. Noch ist unklar, ob die Bundesregierung plant, per Gesetz der bayerischen 10H-Regelung die rechtliche Grundlage zu entziehen. Die Landesregierung tut sich schwer mit dem Thema, was sich auch darin zeigt, dass der für März angekündigte Windkraft-Plan des Landes auch Ende April noch nicht in Berlin eingetroffen war.
Am 27.4.2022 fand eine CSU-Fraktionssitzung einen Kompromissvorschlag: Die 10H-Regel soll bleiben, jedoch sollen als Ausnahme durch die regionalen Planungsverbände sogenannte Vorranggebiete ausgewiesen werden, in denen der Mindestabstand zu Siedlungen auf 1.000 Meter reduziert, also in etwa halbiert wird. Dasselbe soll für "Flächen, die durch bedeutende Infrastruktureinrichtungen bereits eine Vorbelastung des Landschaftsbilds und der Lärmsituation aufweisen" gelten, beispielsweise entlang von Autobahnen, großen Bundesstraßen oder Bahnstrecken, auch in Wäldern, auf Truppenübungsplätzen, beim Ersatz bestehender Windenergieanlagen oder direkt neben Industrieanlagen. Auf diese Weise, so die CSU-Fraktion, könnte das Ziel von 2% der Landesfläche zumindest annähernd erreicht werden.
Grüne und SPD in Bayern ließen erkennen, dass ihnen dies nicht reicht; die SPD verlangt weiterhin die Abschaffung der 10H-Regelung, die Grünen erwarten, dass die Bundesebene diese kippt. Die Freien Wähler begrüßten den CSU-Fraktionsbeschluss. Zugleich wenden sie sich gegen die geplante Streichung der EEG-Förderung für Wasserkraftanlagen mit einer Leistung bis 500 Kilowatt. Wirtschaftsminister Aiwanger verwies darauf, dass Bayern bei der Photovoltaik "bundesweit führend" sei; er strebt außerdem Wasserstoff-Kooperationen mit Norwegen und Schottland an.[10] Der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) geht die geplante Lockerung der 10H-Regelung nicht weit genug: "Jedes neu gebaute oder ertüchtigte Windrad ist gut für Bayern und deshalb brauchen wir möglichst viele davon", so ihr Präsident Wolfram Hatz gegenüber dem Spiegel. Markus Söder warnt hingegen vor "Unfrieden auf den Dörfern". Die geplanten Änderungen machten rund 800 neue Windräder in Bayern möglich.[11]
Fußnoten[Bearbeiten]
- ↑ vgl. Bayern nimmt Windkraft die Luft aus den Segeln, Die Welt v. 12.11.2014
- ↑ CSU, Windkraftausbau: Mitbestimmung für Kommunen und Bürger, 13.11.2014
- ↑ Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 9. Mai 2016, Az. I. Vf. 14-VII-14, Vf. 3-VIII-15, Vf. 4-VIII-15
- ↑ Siehe zitiertes Urteil, Rz. 113
- ↑ Green City Energy: Kommunen haben Windkraftausbau in der Hand, 26.05.2016
- ↑ Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie: Aufwind – Die Bayerische Windenergieoffensive mit Link zum Bewerbungsformular. Siehe auch: Erneuerbare Energien, Wie Bayerns Wirtschaftsminister die Kommunen zum Windparkbau bewegen will, 18.07.2020
- ↑ BR, Windkraft in Bayern: Was bringen Aiwangers "Kümmerer"?, 03.01.2021
- ↑ Bayerischer Landtag: Antwort der Landesregierung auf die schriftliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen "Windenergie in Bayern – aktueller Stand 2021", Drucksache 18/16046 (Januar 2022, pdf-Format, 8 Seiten); siehe auch Welt: „Bei der Windkraft sind wir in Bayern jetzt auf dem Nullpunkt angelangt“, 17.01.2022
- ↑ Siehe dazu den Abschnitt Windenergie im Artikel Was bedeutet der Koalitionsvertrag für die Kommunen?
- ↑ Zum gesamten Abschnitt: BR24, Langes Warten auf Bayerns Windkraft-Plan - Der Druck steigt, 26.04.2022; Windkraft in Bayern - fällt 10H-Regel?, 27.04.2022; 10H-Regel für Windräder bleibt – aber mit deutlichen Ausnahmen, 27.04.2022; Windkraft: Kommunen trotz Lockerung der 10H-Regel skeptisch, 29.04.2022
- ↑ Spiegel: Bayerns Wirtschaft fordert stärkere Lockerung der Abstandsregeln, 23.05.2022. Siehe zum Umsteuern der bayerischen Landesregierung auch Welt, Windräder statt Denkmalschutz und Abstandsregel – warum Söder jetzt umsteuert, 03.07.2022
Weblinks[Bearbeiten]
- Im Wortlaut: Gesetz zur Änderung der Bayerischen Bauordnung vom 17.11.2014 (sog. 10H-Regelung)
- Merkur Online: "Adios Energiewende", Seehofer-Erlass gegen Windkraft (13.11.2014)
- Klagegemeinschaft Pro Windkraft, Homepage
- Die Popularklage im Wortlaut
- Das Urteil im Wortlaut: Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 9. Mai 2016, Az. I. Vf. 14-VII-14, Vf. 3-VIII-15, Vf. 4-VIII-15
- Bayerischer Rundfunk: Rückenwind für Staatsregierung, 09.05.2016 (mit weiteren Stellungnahmen)
- DIW: Strikte Mindestabstände bremsen Ausbau der Windenergie, Pressemitteilung vom 28.11.2019 mit Link auf die Kurzstudie sowie Grafik, die den Einbruch der Windanlagen-Genehmigungen nach Inkrafttreten der 10H-Regelung zeigt